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Vorwort Dies ist der zweite Band meines Schachbuches „Statische und dynamische Stellungsbewertung für Trainer und Spieler“, das 2022 im JugendSchachVerlag aus Dresden erschienen ist. Der Inhalt beider Bände überschneidet sich, da wir in diesem Band noch etwas tiefer gehen. Im ersten Band werden die Grundlagen und die Grundelemente erklärt, wie z.B. die Einschränkung der Beweglichkeit gegnerischer Figuren, die Arten der Übermacht, dynamisches Schach, insbesondere die Bauerndynamik und wie es auch das Vorwort in Band 1 gut umreißt „Im gemischten Material des Buches findet man nicht nur nützliche schachbezogene Gesichtspunkte des Positionsspiel und der Strategie, der Balance von Material, Zeit und Raum, des Angriffs und der Verteidigung, sondern auch … aus den Stärken und Schwächen einer Stellung einen Plan für den Angriff, die Verteidigung, oder Gegenangriff abzuleiten, gegebenenfalls auch die Transformationen in einem vorteilhafteren Stellungstyp anzustreben.“ H.-P. Ketterling In diesem Band 2 ist das Ziel, einem großen Spielerkreis von Anfängern, über Klubspieler bis zur Meisterstärke den Nutzen und die praktische Anwendung der Stellungsbewertung zugänglich zu machen. Dieses Thema ist nach meiner etwa 30-jährigen Erfahrung als Trainer ein äußerst wichtiger Bestandteil der Spielervorbereitung und der Trainerarbeit. Deshalb habe ich konkrete Methoden in drei Stufen, ein detailliertes, systematisches und in mehrere Spielstärken unterteiltes System ausgearbeitet. Die Mehrheit der Trainer bringt Anfängern und fortgeschritteneren Anfängern überwiegend Mattkombinationen, taktische Motive und Angriffe auf den König bei und lässt sie diese üben. Dies führt kurzfristig meist zu gewissen Erfolgen, kann aber langfristig auch mehrere negative Auswirkungen haben. Was ich leider auch schon mehrfach erlebt habe, ist, dass diese Unterrichtsmethode bei besonders talentierten Kindern eine Abneigung und einen Widerstand gegen die Ausbildung im positionellen Schach hervorruft, wenn der Trainer diese später beginnt. Viele erzielen schon als „Naturtalent“ beachtliche Erfolge, erreichen sogar Meisterkandidatenniveau, sind aber mit den strategischen Grundlagen kaum vertraut. Ich möchte an dieser Stelle eine Geschichte erzählen, die mir der leider verstorbene Internationale Meister Stefan Gross aus Pilsen vor Jahren erzählt hat. Er hatte bereits schon seinen IM Titel erreicht, als er gegen einen namhaften Großmeister aus seinem eigenen Land spielte. Er besiegte ihn sogar und nach dem Match forderte ihn der Großmeister heraus und riet ihm, dass es neben seinem Talent gut wäre, „auch Schach spielen zu lernen“. Ein ähnliches Problem stellt sich für Trainer auch, wann und welche Eröffnung sie unterrichten sollen, aber das gehört hier nicht zum Thema. Ich kenne sehr viele meisterstarke Schachspieler, die taktisch sehr gut waren, aber ins positionelle Schach nicht tiefer eindringen wollten und von denen viele das Wettkampfschach aufgegeben haben. Viele Trainer, ich selbst eingeschlossen, stehen täglich vor dem Problem, wann und wie man Anfängern bestimmte Elemente des Positionsschachs und der Stellungsbewertung beibringt. Diesen grundlegenden Mangel möchte ich versuchen abzubauen, deshalb habe ich diese Bücher geschrieben. Ich möchte ein ganz großes, herzliches Dankeschön aussprechen! Meinem guten Freund Hans-Peter Ketterling, dem ehemaligen Vorsitzenden des Berliner SK Tempelhof, für die fachlich fundierte und ästhetisch anspruchsvolle Korrektur der deutschen Übersetzung des ersten Bandes, in dieser Eigenschaft quasi als Co-Autor. Meinem liebsten Schüler FM Julius Ohler und seiner Mutter Tina, die viele Seiten auf Deutsch korrigiert und die Aufgaben getestet haben. Meinem Sohn Oliver, dem Großmeister, der die fachliche Kontrolle durchgeführt und die Übungen getestet hat, und natürlich meiner engeren Familie für ihre große Geduld und liebevolle Unterstützung. Schließlich, aber nicht zuletzt dem JugendSchachVerlag, seinem Leiter und seinen Mitarbeitern, die stets sehr kompetent und hilfsbereit waren. Ich bedanke mich bei allen, die zu diesem Buch beigetragen haben! EINFÜHRUNG Mit dem zweiten Band möchte ich meinen Lesern wichtige Methoden der Stellungsbewertung im Schach vermitteln und ihnen weitere Türen auf dem Weg des fachlichen Aufstiegs öffnen. Sie sollen ihre Kenntnisse vertiefen und die Voraussetzungen für ihren sportlichen Erfolg verbessern. Zu Beginn des dritten Kapitels beschreibe ich, wo ich angefangen habe und wie ich zu dieser Methode gekommen bin bzw. wie diese sich entwickelt hat. Mein Ausgangspunkt war das Buch „Stellungsbeurteilung und Plan“ von Anatoly Karpov und Anatoly Mazukevitch, und nach „Geheimnisse der modernen Schachstrategie“ von John Watson war ich sehr beeindruckt von Iossif Dorfmans „Die Schachmethode“. Daneben waren auch Valeri Beims Buch „Wie man dynamisches Schach spielt“ und seine Stellungnahme zur vernachlässigten dynamischen Schachliteratur, die ich hier ebenfalls zitiere, wichtig. Das Buch richtet sich an Schachspieler fast aller Spielstärken, vom Anfänger über Klubspieler bis hin zu Meistern und bietet seinen Lesern Anleitungen und Übungen, die auf ihre jeweilige Spielstärke zugeschnitten sind. Neben den vorgestellten Methoden lernen die Leser auch, wie sie verschiedene Faktoren bei der Bewertung einer Stellung individuell berücksichtigen können. Der Kern des Buches liegt in der Darstellung der Methoden zur Bewertung von Stellungen. Um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Leser gerecht zu werden sind die konkreten Methoden in drei Schwierigkeitsstufen mit Flussdiagrammen und ausführbaren Übungstabellen unterteilt. • Stufe 1 für (starke) Anfänger und Klubspieler mit etwa 1000 bis 1600 DWZ • Stufe 2 für Klubspieler bis Meisteranwärter mit etwa 1600 bis 2100 DWZ • Stufe 3 für fortgeschrittene Klubspieler bis zur Meisterstärke Die Gliederung des Buches: • Erstes Kapitel: Dieses Kapitel befasst sich mit dem ersten Schritt der Stellungsbewertung. Zunächst werden wichtige grundlegende Begriffe erläutert und die einfache Stellungsbewertung mithilfe von vierzig Beispielen aus der Praxis geübt. • Zweites Kapitel: Dieses Kapitel behandelt die Theorie und Praxis der zweistufigen Stellungsbewertung. Hierbei werden dynamische Faktoren in den Bewertungsprozess einbezogen. Diese und weitere relevante Faktoren werden definiert und erläutert, bevor der konkrete Ablauf der zweistufigen Stellungsbewertung mit praktischen Beispielen vertieft wird. • Drittes Kapitel: In diesem Kapitel wird die erweiterte dreistufige Stellungsbewertung vorgestellt. Zunächst werden drei moderne dynamische Themen präsentiert, bevor die Methode nach dem theoretischen Teil anhand von lehrreichen Beispielen in der Praxis veranschaulicht wird. Die Methode der Variantenberechnung ist kein Thema dieses Buches, aber sie ist ein zentraler Bestandteil des Schachspiels und bezeichnet die Fähigkeit, verschiedene Zugfolgen und deren mögliche Stellungen zu analysieren und zu berechnen um die beste Entscheidung in einer gegebenen Situation zu treffen. Dies erfordert ein hohes Maß an strategischem Denken, Mustererkennung und Merkfähigkeit. Ich möchte im Rahmen dieses Buches anbieten die Variantenberechnung zu üben, dafür sind in Kapitel 2.14 und 3.5 fünfzig herrliche Kombinationen zu finden. Ich lege viel Wert auf Definitionen. Die Definition von Begriffen und die Klärung von Sachverhalten sind meiner Ansicht nach gerade für Jugendliche von immenser Bedeutung und großem Nutzen. Denn nur wenn junge Menschen komplexe Sachverhalte verstehen, können sie diese kritisch hinterfragen, fundierte Entscheidungen treffen, ihre eigene Meinung bilden und ihre Sprachkompetenz verbessern. Die in diesem Buch beschriebenen Stellungsbewertungsmethoden sind praktische, rationale Versuche, diese äußerst komplexen Prozesse annähernd zu erfassen und zu bewerten. Ich hoffe aufrichtig, dass diese Methoden als Ausgangspunkt dienen und weiterentwickelt werden können.